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Mit Metcalfe und Millerntor 11FREUNDE

Es ist der 14. Oktober 2022. Ein Frei­tag­abend, etwa 19:50 Uhr. Marcel Hartel mar­schiert mit dem Ball in der Hand in Rich­tung der nord­öst­li­chen Eck­fahne des Mill­ern­tor­sta­dions. Bevor er sich das Leder zum Eck­stoß zurecht­legt, führt Hartel es kurz an seine Lippen und drückt ihm einen Kuss auf seine Nähte. Viel­leicht flüs­tert er dem Ball auch zu, wo er gleich landen soll. Was auch immer er getan hat, es funk­tio­niert: Die Nummer zehn des FC St. Pauli schlägt den Eck­ball in den Sech­zehner, Eric Smith steht im Zen­trum bereit und köpft punkt­genau neben den linken Tor­pfosten ins Gehäuse des Ham­burger SV. TOR! 1:0 für die Braun-Weißen. Die Zei­chen für einen Der­by­sieg gegen den Tabel­len­führer stehen gut. In diesem Moment ist die Welt auf Sankt Pauli in Ord­nung.

Mit 3:0 gewann das in dieser Saison sonst so ent­täu­schende St. Pauli das Stadt­derby. Nur um eine Woche später bei Schluss­licht Arminia Bie­le­feld mit 0:2 zu ver­lieren. Die zwei Par­tien stehen sym­bo­lisch für den FC St. Pauli der ver­gan­genen Hin­runde. Zuhause blieb die Mann­schaft von Timo Schultz unge­schlagen und spielte dabei zusätz­lich zum Sieg gegen den HSV Unent­schieden gegen die Spit­zen­teams aus Darm­stadt, Pader­born und Hei­den­heim.

In der Fremde konnten Marcel Hartel und Co. aller­dings nicht eine von neun Par­tien gewinnen. Eine Aus­beute von ledig­lich drei Punkten machte sie zur schlech­testen Aus­wärts­truppe der Hin­runde. An Weih­nachten hatte der Ham­burger Stadt­teil­klub nur einen Punkt Vor­sprung auf Rang 18. Dazu ein ernüch­terndes Fazit für das Kalen­der­jahr 2022: 38 Punkte aus 33 Liga­spielen holte der FCSP – im Vor­jahr waren es noch 75 Zähler aus 39 Par­tien.

Schultz fliegt – Schul­diger oder Sün­den­bock?

Der Leid­tra­gende der Ent­wick­lung war Trainer Timo Schultz, der noch vor den Fei­er­tagen ent­lassen wurde. Die sai­son­über­grei­fenden Pro­bleme“ wie die fatale Aus­wärts­schwäche“, feh­lende Wei­ter­ent­wick­lung“ und die feh­lende Fähig­keit, Spiele zu drehen“ führte die Ver­eins­füh­rung als Grund­lage für ihre Ent­schei­dung zur Tren­nung von Schultz an, die etliche Anhänger nicht nach­voll­ziehen konnten. Wer den FC St. Pauli lebt, würde nie­mals zu diesem Zeit­punkt eine Iden­ti­täts­figur wie Timo Schulz vor die Tür setzen“, schrieben Fans der Braun-Weißen in einer Peti­tion. Sie wollten die feh­ler­hafte Kader­pla­nung als Grund für den Absturz aus­ge­macht haben.

Tat­säch­lich leidet die Kader­qua­lität noch immer unter den Abgängen von Guido Burg­staller (18 Tore und 8 Vor­lagen in 2021/22) und Daniel-Kofi Kyereh (12 Tore und 10 Vor­lagen). Im Winter hat Sport­chef Andreas Born­emann mit den Ver­pflich­tungen von Mau­r­ides Roque Junior und Oladapo Afo­layan offensiv nach­ge­rüstet. Zumin­dest Letz­terer sorgte in den ver­gan­genen zwei Spielen für fri­schen Wind auf der Außen­bahn. Kapitän Jackson Irvine ist sich sicher, dass Afo­layan noch große Dinge für uns tun wird“.

Fünf Spieler unter 1,70 Meter, super Auf­tei­lung!“

Leart Paqarada, Kapitän des FC St. Pauli

Große Dinge tun soll zunächst aber erst mal der neue Coach Fabian Hür­zeler. Oder zumin­dest soll er die Lage auf dem Kiez wieder ver­bes­sern. Der 29-Jäh­rige ist als Spieler nie über die Regio­nal­liga hin­aus­ge­kommen und steht nun vor der Auf­gabe, den Zweit­li­gisten FC St. Pauli aus der Krise zu manö­vrieren – als aktuell jüngster Trainer im deut­schen Pro­fi­fuß­ball. Was für ein Typ er ist, zeigte sich an einem Streit im Trai­ning Anfang Februar.

Fünf Spieler unter 1,70 Meter, super Auf­tei­lung!“, soll Links­ver­tei­diger Leart Paqa­rada wenig begeis­tert zu Hür­zeler gesagt haben. Der Coach bot ihm dar­aufhin an, vor­zeitig duschen zu gehen, was Paqa­rada ablehnte. Auf der Pres­se­kon­fe­renz sagte Hür­zeler dazu: Das war nicht der erste Krach zwi­schen uns. Ich bin froh, dass so etwas pas­siert.“ Er lobte gar die Art und Weise, wie Paqa“ sich in sol­chen Situa­tionen als emo­tio­naler Anführer des Teams zeige.

Der Met­calfe-Kniff

Vor Streit und Dis­so­nanzen schreckt der neue Mann an der Sei­ten­linie auf dem Kiez also offenbar nicht zurück. Aber ganz neu ist er eigent­lich nicht – schon unter Timo Schultz war er Teil des Trai­ner­teams. Ist das über­haupt eine echte Ver­än­de­rung? Ja, sagen die Resul­tate: 1:0 in Nürn­berg, 2:0 zuhause gegen Han­nover 96, und auch die Aus­wärts­macht aus Kai­sers­lau­tern musste sich am Mill­erntor mit 1:0 geschlagen geben. Ja“ zur Frage nach der Ver­än­de­rung sagte auch Abwehr­mann Eric Smith, schon bevor es ergeb­nis­tech­nisch lief. Jetzt kann er (Hür­zeler, Anm. d. Red.) das machen, was er will.“ Und weiter: Was er vorhat, passt zu den Spie­lern, die wir haben.“

Der lebende Beweis dafür ist Connor Met­calfe, eigent­lich als Sechser geholt und unter Schultz nur Ein­wech­sel­spieler. Hür­zeler brachte ihn in den ersten drei Spielen des neuen Jahres in der Startelf als rechten Stürmer. Gegen Han­nover erzielte er ein Traumtor und gegen den 1. FC Kai­sers­lau­tern den wich­tigen Sieg­treffer. Womög­lich ent­puppt sich der Aus­tra­lier im Laufe der Rück­runde als der treff­si­chere Stürmer, nach dem man sich auf dem Kiez sehnt. Dabei sagt Met­calfe, er habe nicht mehr im Sturm gespielt, seit er elf oder zwölf Jahre alt war.

Zum ersten Mal seit 2007 drei Spiele in Serie zu Null

In seiner Coa­ching-Zone wirkt Fabian Hür­zeler in der eng anlie­genden Jog­ging­hose anders als ein Edin Terzic oder Julian Nagels­mann selbst noch wie ein Sportler. Zu den Prot­ago­nisten auf dem Platz zählt er mitt­ler­weile nicht mehr – das war aber mal anders. Von 2016 bis 2020 war er Spie­ler­trainer des FC Pipins­ried und führte sein Team zum Auf­stieg in die Regio­nal­liga Bayern. Dort kam es 2017 zum Auf­ein­an­der­treffen mit der U23 des FC Bayern, trai­niert vom heu­tigen HSV-Coach Tim Walter. Wir haben glaube ich 30:1 Tor­schüsse gehabt und die haben das Spiel gewonnen“, erzählte Walter der Ham­burger Mor­gen­post. Tor­schütze damals: Fabian Hür­zeler.

Zurück in der Gegen­wart scheint St. Paulis Aus­wärts­fluch auf den ersten Blick gebro­chen. Zusätz­lich wird auch unter Hür­zeler das Mill­erntor-Sta­dion weiter zur Fes­tung aus­ge­baut: Kai­sers­lau­tern ist die fünfte Mann­schaft aus der Zweit­liga-Spit­zen­gruppe, die sieglos den Heimweg antreten musste. Auch wenn dem neuem Coach Serien laut eigener Aus­sage egal sind: Die Kiez­ki­cker spielten drei Mal in Folge zu Null – das schafften sie zuletzt 2007 in der Regio­nal­liga Nord.

Es zeichnet sich ab, dass dem FC St. Pauli ein bes­seres Jahr 2023 blüht. Nun ja, erfolg­rei­cher als im Vor­jahr zu sein, dürfte keine allzu große Her­aus­for­de­rung werden, aber womög­lich gelingt es mit dem fri­schen Wind unter Hür­zeler und dem Faust­pfand Mil­lentor-Sta­dion im Rücken, wieder an die Glanz­leis­tungen aus 2021 anzu­knüpfen (Zur Erin­ne­rung: 75 Punkte in 39 Spielen). Blöd ist nur, dass man sich für gute Kalen­der­jahre im deut­schen Fuß­ball nicht ganz so viel kaufen kann wie für gute Sai­sons. Aber dann wäre die Welt auf Sankt Pauli zumin­dest wieder in Ord­nung, und zwar nicht nur für einen Derby-Abend.

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Brenda Moya

Update: 2024-10-29